Der Umgang mit dem kulturellen Erbe in Deutschland und Polen im 20. Jahrhundert

Der Umgang mit dem kulturellen Erbe in Deutschland und Polen im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Polnisches Institut Leipzig
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2002 - 29.09.2002
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Von
Andrea Langer, Geisteswissenschaftliches Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO); Sigrid Brandt

Wer den Versuch unternimmt, aus historischer Reflexion des 20. Jahrhunderts Prognosen für das neue Jahrhundert zu wagen, bekommt es mit der Kategorie des Nationalen zu tun. Die Idee eines kulturellen Nationalismus gehörte um 1900 bereits der Vergangenheit an, erst recht die hoffnungsvolle Illusion aus den Jahren um 1800, als man dem nationalen Prinzip zutraute, die Konflikte der Völker zu lösen. Die Forderung nach Freiheit und Gleichheit der Nationen hatte machtpolitischen Gelüsten weichen müssen, Nationalismus hieß fortan vor allem National-Egoismus. Der Erste Weltkrieg beendete mit einem Schock die „Welt von gestern“ (Stefan Zweig), zerschlug überlebte Monarchien und goß Öl ins Feuer des Kampfes um die Vorherrschaft einzelner Nationen. Gleichzeitig führte er zur Bildung neuer Nationalstaaten und ließ lange unterdrückte Völker staatliche Unabhängigkeit erreichen. Die Zerstörungskraft des Nationalismus bleibt mit dem Zweiten Weltkrieg dem europäischen Gedächtnis eingeschrieben. Symptomatisch für die erlebte existentielle Verletzung ist, dass es heute ein „Europa der Regionen“ sein soll.

Auf der diesjährigen Tagung des Arbeitskreises deutscher und polnischer Kunsthistoriker, der vor diesem geschichtlichen Hintergrund das gemeinsame Kulturerbe zum Gegenstand seiner Gespräche macht, war die Thematik enger, präziser gefaßt als in früheren Tagungen. Sie kreiste um zwei Schwerpunkte, die beide in den letzten Jahren zu Aktualität gelangt sind: Geschichte und Probleme der Denkmalpflege und den Komplex der Beutekunst.

In seinem einführenden Referat widmete sich Andrzej Tomaszewski (Warschau) der Geschichte der Theorie der Denkmalpflege im 20. Jahrhundert am Beispiel Polens und Deutschlands. Einen gemeinsamen Ausgangspunkt bildet die denkmaltheoretische Debatte an der Wende zum vergangenen Jahrhundert, als in Österreich und Preußen nach einer wissenschaftlichen Fundierung des Denkmalbegriffs und der Denkmalpflege als Disziplin gesucht wurde. Die damals aufgestellte, mit dem Namen von Alois Riegl verbundene Forderung, das Denkmal als historische Quelle, als historisches Dokument anzusehen, Wissenschaft und Forschung nicht in den Dienst von Rekonstruktionstätigkeit zu stellen, die Stileinheit eines Baus anstrebt, konnte quer durch die Nationen nur halbwegs Fuß fassen. Der Gläubigen gab es viele, allein nicht alle befolgten die Gebote. Fehlende Zurückhaltung der Architekten einerseits, der Sog des Nationalismus andererseits, so Tomaszewski, waren Gründe für das teilweise Scheitern des neuen Denkmalverständnisses. Er sieht einen neuen Wendepunkt in der denkmaltheoretischen Debatte um das Jahr 2000: Die Konfrontation verschiedener Denkmalauffassungen – hier weitgehende Rekonstruktionen und schöpferische Denkmalpflege, dort Beschränkung auf Substanzerhalten – habe in den letzten Jahren zu einer internationalen Diskussion geführt, die um den Schlüsselbegriff der „Authentizität des Denkmals“ kreist. Dabei zeichne sich der Umriß eines neuen, universellen Denkmalpflege-Verständnisses ab, eines Pluralismus, der regionale Auffassungen und den „ganzen Reichtum der Denkmalauthentizität“ respektiere: zum einen die materiellen Werte, Substanz und Form, darüber hinaus aber auch die geistigen Anliegen wie Tradition, Symbolik, religiöse, nationale, kulturelle und ideelle Werte. „Wir sind dabei, die der Denkmalpflege immanenten, Heuchelei generierenden Gegensätze auszuräumen, sie humanistischer und klüger zu machen, sie auf Vernunft und nicht auf Dogmen zu gründen.“ Die Kritik war vorsichtig, aber nicht zu überhören: Denkmalpflege, die einzig ihre Aufgabe darin sehe, Substanz zu konservieren, gerate nicht nur schnell in den Verdacht des Dogmatismus, sondern bringe auch das Denkmal um seine immateriellen Werte. Tomaszewski erinnerte an Riegl, dem die nationalen Töne eines Georg Dehio fremd waren. Ein Umdenken ist seit den 1990er Jahren mit Eröffnung der "Erinnerungsdebatte" erkennbar.

Im weiteren Fortgang des Vortrages erwies sich der Verweis auf die „Klassiker“ der Denkmaltheorie eher als Distanzierung. Der „Fundamentalismus“ eines Max Dvorak, der 1908 am Krakauer Königsschloß auf dem Wawelhügel auch die jüngste Schicht des Denkmals, in diesem Falle die Vermauerungen der Renaissancearkaden aus dem 19. Jahrhundert, erhalten wissen wollte, sei durch das Leben korrigiert worden: Seine scheinbar konsequente Forderung, die aber die architektonische Qualität ebenso wie die Symbolbedeutung des Schlosses für Polen beiseite ließ, war nach 1918 nicht mehr haltbar. Tomaszewski folgerte, Veränderungen, die ein Kunstwerk drastisch entwerten, gelte es nicht zu erhalten. Wie problematisch das Verhältnis Kunstwert - geschichtlicher Wert eines Denkmals an einem Denkmal werden kann, zeigte Tomaszewski an dem „arglistigen Schlußwort“, das die Geschichte am Krakauer Schloß geschrieben hat: Während des Zweiten Weltkrieges ließ Generalgouverneur Hans Frank den historischen Westflügel des Arkadenhofes abtragen und einen neuen Flügel errichten. Diese Architektur, so Tomaszewski, maßvoll und neutral in der Form, beeinträchtige nicht den Kunstwert des Ensembles, sei aus diesem Grund nach dem Krieg als „letzte Schicht“ nicht abgerissen oder verändert worden und später als ein Teil des Wawel-Ensembles auf die UNESCO-Weltkulturerbeliste gelangt.

Tomaszewskis Eintreten für eine aeterna creatio, gerechtfertigt, um den Gesellschaften das „Bild“ verloren gegangener oder entwerteter Kulturgüter, ihnen Erinnerungsorte ihrer kulturellen Identität wiederzugeben, birgt die gesamten diffizilen Verstrickungen der Rekonstruktionsproblematik, denen sich Denkmalpfleger hierzulande gern mit dem Verweis darauf zu entziehen versuchen, dass dies nicht ihr Aufgabengebiet sei. Guido Hinterkeuser (Berlin) unternahm den Versuch, die Geschichte des Berliner und des Warschauer Schlosses zu vergleichen und zielte nicht zuletzt auf eine Legitimation des Wiederaufbaus des Ersteren. Dies blieb ebenso umstritten wie der geplante Wiederaufbau der Pauliner-Kirche in Leipzig, die Arnold Bartetzky (Leipzig) mit den Abrissen zahlreicher Gründerzeitbauten in der Stadt kontrastierte. Hier bleibt genauestens zu analysieren, welche Sehnsüchte und Wünsche Wiederaufbauten erfüllen, und welche Werte demgegenüber in den ganz andersartigen, gerade durch ihre Fremdheit sprechenden historischen Bauten liegen.

Die polnische Denkmalpflege hat – anders als die deutsche – sehr viel früher auf die leidvolle Erfahrung zerstörter Bauten und Orte reagieren müssen. Die Beiträge von Pawel Dettloff (Krakau), Malgorzata Omilanowska (Warschau) und Hanna Grzeszczuk-Brendel (Posen) thematisierten den bereits nach 1918 einsetzenden Paradigmenwechsel in der Denkmalauffassung. Die neue Periode in der Geschichte Polens bedeutete nicht nur erstmals einen gemeinsamen rechtlichen Schutz auf dem gesamten polnischen Staatsgebiet, sondern auch die Abkehr von den Grundsätzen der Konservierung. Im Namen polnischen Identitätsbewußtseins wurde z. B. für die von Deutschen am Kriegsbeginn zerstörte Stadt Kalisz ein Wiederaufbauprojekt entwickelt, dessen Programmatik die Wiederbelebung der Tradition polnischer Architektur enthielt. Die Argumentation der emotionsgeladenen und engagierten Veröffentlichungen der Zwischenkriegszeit folgte einer Logik, die nach 1945 auch in Deutschland zu vernehmen sein wird und in einem neuerlichen Purismus ihren Ausdruck fand. Im Geiste Polens sollten Architektur und Städte wiedererweckt werden; die Kriegszerstörungen galten mithin als Chance, Fehler der jüngsten Vergangenheit zu korrigieren, ihnen traditionelle und durch das 19. Jahrhundert oft verloren gegangene Formen wiederzugeben. Die Auseinandersetzungen darüber, was denn eigentlich „polnische Architektur“ sei, wurden vehement geführt und gehörten ganz unmittelbar zu dieser Suche nach kultureller Kontinuität.

Das Beispiel des Rathauses zu Posen (Teresa Jakimowicz, Posen) mag in der gemeinsamen deutschen und polnischen Geschichte der Denkmalpflege des vergangenen Jahrhunderts gleichnishaft für die immer wieder neuen Versuche der verschiedenen Völker stehen, durch die Restaurierung eines Baus sich diesen anzueignen. Restaurierungen als Resultat historischer Kenntnisse, aktueller Technologien, zeitgebundener ästhetischer Vorstellungen und interpretierender Zugriffe auf Formen und Inhalte sind nationalistisch instrumentalisiert und manipuliert worden: Die Frage nach der historischen Wahrheit ist ein weites Feld. Das Posener Rathaus aus dem 13./14. Jahrhundert, 1550-70 umgebaut, am Ende des 18. Jahrhunderts restauriert, wurde nach der zweiten Teilung Polens 1793 Sitz der preußischen Stadtverwaltung. Im 19. Jahrhundert vernachlässigt, interpretierte mit der Restaurierung seit 1910 den Bau im Geiste der „deutschen Renaissance“. Der Repolonisierung nach 1919, dem Wiederaufsetzen des polnischen Adlers auf die Turmspitze und dem Entfernen preußischer Wappen und deutscher Inschriften, folgte 1939 eine erneute Veränderung, bei der man den polnischen Adler wiederum entfernte, bevor das Rathaus im Winter 1945 zerstört wurde. Der Wiederaufbau bis 1954 verfolgte die Wiederherstellung des Baus mit Betonung der italienischen Form und der „fortschrittlichen demokratischen Inhalte“ der nun „polnischen Renaissance“. Die letzte Restaurierung, 1992-2001, sucht, so Teresa Jakimowicz, zum ersten Mal nach Objektivität in der Behandlung des Baus.

Wie irritierend ähnlich hier und dort das Ergebnis am Denkmal selbst aussehen kann, wenn es um die Frage geht, was denn das Deutsche oder das Polnische an Architektur und Stadt sei, wird an dem Umgang mit Altstädten in den 30er und 50er Jahren deutlich. Birte Pusback (Hamburg) untersucht Konzepte der Altstadterhaltung in den 30er Jahren in deutschen und heute polnischen Städten. Der Tag für Denkmalpflege 1938 in Hamburg hatte unter dem Titel „Heimatpflege in der Stadt“ gestanden, und die Entdeckung der Altstadt als „kulturelles Erbe“ ist in jenen Jahren mehrfach konnotiert: Bei der Anmeldung von rund vierzig Städten als Sanierungsprojekte konnte man auf die bereits in den 20er Jahren formulierten Lösungskonzepte zurückgreifen, mit deren früherem Scheitern gleichzeitig die Überlegenheit des nunmehrigen Regimes unter Beweis stellen. Die „Entschandelungen“ der Danziger Rechtstadt oder die „Gesundung“ des Hamburger Gängeviertels zeigen die Bandbreite der Vorgehensweisen in den 30er Jahren, an deren methodische Konzepte nicht nur deutsche, sondern auch polnische Wiederaufbauplanungen nach dem Zweiten Weltkrieg unmittelbar anknüpften, wie Gabriela Klause (Posen) mit dem im Gegensatz zu Warschau und Danzig weniger bekannten Beispiel des Wiederaufbaus des Alten Marktes in Posen zeigte.

Den Großstädtern eine „Heimat“ wiedergeben zu wollen, ist jedoch nicht allein nationalsozialistische oder antistalinistische Rhetorik, sondern Teil der offenen Debatte um Architektur und Städtebau in der modernen Gesellschaft. In ihrem Versuch, Widersprüchlichkeit, Relativität und Multiperspektivität der säkularisierten, rationalisierten und „entzauberten“ modernen Welt zu überwinden, sind die im Ansatz sonst völlig divergierenden Projekte der 30er und der 50er Jahre vergleichbar. Die auf der Tagung gestellte Frage nach dem spezifisch „Nationalsozialistischen“ der Projekte der 30er Jahre wird vertiefend untersucht werden müssen, ebenso wie die urbanistischen Ziele der Nachkriegszeit. Die Ambivalenz dieser Moderne kann dabei nicht außer Acht gelassen werden. Dass man sich diesem Themenkreis nur ungern nähert, ist bekannt. Denkmalpflege und Nationalsozialismus bleibt, abgesehen von den Arbeiten von Susanne Fleischner und Thomas Scheck, ein noch weitgehend ungeschriebenes Kapitel.

Einige Referate über aktuelle Probleme im Umgang mit Altstadt führten die schon genannte grundsätzliche Problematik weiter. In den Beiträgen von Lukasz Krzywka (Breslau) zu historischer Perspektive und zeitgenössischer Stadtplanung für das jahrhundertelang militärisch dominierte Gebiet von Bürgerwerder und Oderkronwerk in Breslau, Rafal Eysymontt (Breslau) zu konservatorischen Richtlinien für historische Städte Schlesiens, Lorenz Frank (Mainz) zur Wiederherstellung historischer Altstädte in Polen seit 1985 und Ojars Sparitis (Riga) zur Rekonstruktion des Rathaus-Ensembles mit dem Schwarzhäupterhaus in Riga zeigte sich ganz unmittelbar das Experimentieren in gegenwärtigen Architektur- und Stadtentwürfen.

Mit besonderer Brisanz ragen die nationalen Auseinandersetzungen der Vergangenheit in die Gegenwart hinein beim Thema der „Verlagerung von Kulturgütern“. Kunstraub, Beutekunst, Geschenke vom Brudervolk, Restituierung von Kunstwerken, Rückführung kriegsbedingt verlagerter Kulturgüter – auch hier ist die Terminologie ein getreuer Spiegel des Geistes derer, die sie benutzen. Über die historischen Vorgänge von 1939-45 – zwischen dem Versuch gezielter Auslöschung der polnischen Kultur und Aneignung dessen, was als deutsch gelten konnte – herrscht noch weithin Unklarheit. Die letzten fünfzig Jahre haben kaum zu ihrer Aufklärung beitragen können. Nawojka Cieslinska-Lobkowicz stellte fest, dass die offiziellen Gespräche und deren Spiegelung in den Zeitungen selbst noch in den letzten Jahren als „gegenseitige Taubheit“ zu bezeichnen sind, und empfahl verstärkte Abstimmung der Fachinstitutionen untereinander. Um bei der deutschen Seite zu bleiben: Es ist auch im Ausland kaum verständlich zu machen, dass der Begriff „Beutekunst“ hierzulande gern auf solche Werke eingeengt wird, die Deutschen geraubt worden sind. Der erste Katalog der deutschen Verluste ist schon bald nach dem Krieg veröffentlicht worden, die Vorbereitung des Katalogs jener Kunstwerke, die deutsche Museen unrechtmäßig besitzen, hat erst kürzlich begonnen. Regine Dehnel (Magdeburg) und Uwe Hartmann (Magdeburg) kontrastierten ihre derzeitigen Bemühungen in der „Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste“ mit den Rückgabevorgängen durch die Alliierten nach 1945 bzw. durch die ehemalige DDR.
Sich auf Provenienzforschung zu konzentrieren, scheint das Gebot der Stunde. Ihre Ergebnisse bilden die Voraussetzung dafür, dass konkrete Fälle öffentlich diskutierbar werden. Ein gutes halbes Jahrhundert nach Kriegsende ist es höchste Zeit zu Taten.

Für weitere Informationen steht Andrea Langer, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Luppenstr. 1b, 04177 Leipzig, zur Verfügung. Ein Tagungsband soll in der vom Arbeitskreis gegründeten Reihe „Das gemeinsame Kulturerbe“, die im Institut Sztuki PAN in Warschau erscheint, in der ersten Jahreshälfte 2004 veröffentlicht werden.

Kontakt

Andrea Langer
Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur
Ostmitteleuropas (GWZO)
Luppenstr. 1b
04177 Leipzig

langer@rz.uni-leipzig.de

www.uni-leipzig.de/gwzo
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